Im Alltag streben unsere Schritte nach bestimmten Zielen. Wir gehen, um etwas anderes zu tun. So haben wir wenig Gewinn vom Gehen. Doch wenn wir sagen «Ich gehe wandern », brechen wir aus Freude an der Bewegung auf. Wandernd kehren wir zum Menschsein zurück. Wir sind nicht Lehrer oder Kaufmann, Arbeiter oder Ingenieur, wir sind auch nicht Autofahrer oder Fernsehzuschauer.
Kein Motor treibt uns vorwärts, keine Windschutzscheibe trennt uns von der Umgebung. Wandernd erleben wir Natur und Menschen in dem Rhythmus, der ihnen angeboren ist. Fahren wir im Auto vorbei, sehen wir zwar die Gänse vor dem Bauernhaus, aber wir können nicht beobachten, wie sie vom Haus zum Garten watscheln, wie sie schnattern und die Hälse recken, wie sie phlegmatisch hintereinander hermarschieren. Vom Auto aus sehen wir nur Momentaufnahmen.
Doch als Wanderer erleben wir gesamte Abläufe und Zusammenhänge, wir erleben Komplexes und Paradoxes. Momentaufnahmen sind kaum rätselhaft, Zusammenhänge sind es dagegen immer. Wenn wir wandern, fühlen wir uns nicht dazu verpflichtet, noch etwas anderes zu tun, das die Zeit sinnvoll ausfüllt. Zu wandern, also die immer gleichen Gehbewegungen auszuführen, rhythmisch und mechanisch, das ist genug Sinn. Diese Bewegungen befriedigen unseren Drang nach Tätigkeit, aber sie stopfen unseren Kopf nicht voll. Beim Wandern bleibt der Kopf frei – frei, um zu beobachten, einfach aufzunehmen, sich an den Gestaltungen der Natur zu erfreuen. Die wieder vergessen, was sie gesehen haben, brauchen sich nichts vorzuwerfen. Der Kopf ist frei, aber die Füße spüren Schritt für Schritt die Festigkeit der Erde unter sich. Die Füße solidarisieren sich mit der Erde – nur diese fortwährenden Berührungen im gleichmäßigen Takt machen das Wandern mit seiner Freiheit und seinen Erlebnissen möglich.
Das Wandern erfüllt sich erst mit der Zeit. Eine Stunde Gehen wird niemand Wandern nennen. Es müssen mehrere Stunden, mehrere Stunden ohne Unterbrechung sein! Dann erst fühlen wir uns mit hineingenommen in das Leben um uns. Wir sind weder Gäste noch Zuschauer. Die zunehmende körperliche Erschlaffung verbindet sich mit einer erstaunlichen Transparenz des Geistes, als wolle er sich – wie in einem Traum – vom Körper lösen.
Aus: Martin Kämpchen: Einfach tun. 44 Schritte zur Lebenskunst. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009